Es war einmal ein Mädchen, das hatte ein neues Fahrrad bekommen. Zuhause angekommen, schnappte sich der Vater das schicke Mädchenfahrrad und drehte eine Runde im Hof damit. Das Mädchen war unglaublich erbost. Ihre Empörung darüber muss wirklich groß gewesen sein, denn sie verewigte das Ereignis in wütenden Worten sogar in ihrem Tagebuch, in das sie sonst kaum jemals schrieb. Sie schimpfte: „Wie kann er es wagen, mein Rad zu entweihen! Es gehört mir, ich sollte als Erste damit fahren. Er ist doch viel zu schwer, um damit zu fahren. Bestimmt hat er es kaputt gemacht. Wie kann er nur so egoistisch und gemein sein!“
Viele Jahre vergingen. Das Mädchen war schon lange groß und erwachsen. Da bemerkte die junge Frau, dass sie oft keine Verbindung zu anderen Menschen hatte, weil auf dem Weg zwischen ihr und den anderen häufig unsichtbare größere und kleinere Steine lagen. Doch dann lernte sie eine Methode kennen, wie sie die Steine erspüren und ertasten, ja direkt sichtbar machen konnte - davor ist sie immer wie blind dagegen gerannt, was ziemlich weh tat. Sobald sie die Steine also erkannte und wahrnahm, konnte sie diese dann einfach zur Seite rollen und plötzlich war es leicht, den Menschen auf der anderen Seite entgegen zu gehen, da der Weg frei war.
Da gab es aber auch diese ganz kleinen, winzigen Kieselsteinchen, die sich beim Gehen manchmal in ihren Sandalen verfingen. Auch diese bemerkte sie und sie zuckte innerlich kurz zusammen, wenn sie auftrat. Aber weil sie so klein waren, schimpfte die Frau mit sich: „Sei nicht so empfindlich – das ist doch wirklich nicht der Rede wert. Andere haben Felsbrocken auf ihrem Weg. Da wirst du doch wegen so einem kleinen Steinchen nicht so ein Theater machen.“ Und sie versuchte diese Steinchen zu ignorieren und biss die Zähne zusammen.
Eines Tages saß sie im Zug nach einem Wochenende bei ihren Eltern. Weil sie die großen und kleinen Steine, die zwischen ihnen standen, nach und nach aus dem Weg geräumt hatte, verbrachte sie sehr gerne viel Zeit mit ihnen und spürte große Dankbarkeit und Liebe für ihre Mutter und ihren Vater. Am Nachhauseweg im Zug aber war plötzlich etwas, was sie nicht mehr ruhig sitzen ließ. Sie rutschte hin und her und konnte keine bequeme Position finden. Ein Unwohlsein, eine Unpässlichkeit. Sie kannte das Gefühl: es musste eines dieser fiesen Kieselsteinchen sein. Weil sie endlich ihren Frieden wollte, fischte sie das Steinchen unter ihrem Sitz hervor und betrachtete es. Der Stein verwandelte sich vor ihren Augen in eine Erinnerung. Sie sah das Mädchen, das Fahrrad, den Hof und den Vater aus ihrer Kindheit. Sie kannte diese Geschichte schon, sie hat sie sich hundertmal erzählt, sie wusste wie sie ausgeht. Oder vielleicht doch nicht? Hatte sie wirklich aufgepasst? Hatte sie wirklich zugehört? Kann es sein, dass sie ein wichtiges Detail übersehen hatte?
Mit den Fragen kamen ganz viele Antworten in Form von klaren Bildern: Der Vater freute sich so sehr darüber, dass er seiner Tochter etwas schenken konnte. Wie er sich immer gefreut hat und wie er sich noch immer bis heute freut, wenn er ihr eine Freude machen kann. Er freute sich so sehr als wäre es sein eigenes Rad. Seine Augen leuchteten, wie sonst eigentlich nur Kinderaugen leuchten können und wie man es sonst kaum jemals bei einem erwachsenen Menschen sehen kann. So groß war sein Herz, sein unschuldiges Gemüt und so stark war seine Verbindung zu seinem Kind. Es war als hätte er das Rad selbst bekommen!
Und so hüpfte das Herz der Frau im Zug vor Freude als sie der Geschichte zum ersten Mal wirklich zuhörte konnte. Sie sah, wie es wirklich war und konnte gar nicht glauben, wie sie so lange das wichtigste Detail übersehen hatte können. Auch sah sie, dass das Steinchen nicht fies war. Es war genauso unschuldig wie sie in dem Ignorieren ihres Schmerzes. Das Steinchen war all die Jahre da und hat gepiekt und gestochen, damit sie endlich zuhört und sieht. Danke Steinchen, danke Papa!
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