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"Die eine richtige Lebensweise."

Ich wollte unbedingt Vegetarierin werden. Ich dachte, dass sei schön. Das ist richtig. Das ist ethisch. Das ist ökologisch. Das ist spirituell. Das ist gut für die Tiere. Gut für mich. Gesund. Wenn ich mich einen Tag lang vegetarisch ernährt hatte, fühlte ich mich gut. Erhaben. Im Einklang mit mir. Dann noch ein bisschen Yoga und Meditation und ich bin voll Zen. Und ich schwebe über den Dingen, vor allem aber über den anderen, über euch. Vegan wär' zwar noch besser, aber so extrem will ich dann auch nicht sein. Und dann kam der nächste Tag, wo ich nur an einen fetten Burger denken konnte. Und ihn auch aß. Dann hatte ich ein schlechtes Gewissen. Dann habe ich es gerechtfertigt: wahrscheinlich braucht mein Körper das gerade. Besser als Vitaminpillen nehmen. Dann wieder der Schmerz darüber, dass Tiere für mich sterben müssen. Wieder schlechtes Gewissen. Aber eigentlich mag ich Fleisch eh nicht so gern. Nicht so oft. Aber Wurst schon. Auf die steh' ich echt manchmal. Aber das ist ja eh nur eine Konditionierung aus meiner Kindheit. Wurstsemmel = Belohnung. Weil es diese von der Mama nur zu besonderen Anlässen gab und weil die freundliche Fleischerin im Greissler mir immer so lieb schmunzelnd ein Stück Extra über die Theke gereicht hat. Alles nur mit Erinnerungen verknüpft. Das kommt aus dem primitiven Reptilienhirn. Also wieder vegetarisch ernähren. Und es gibt ja so viel Köstliches, das ohne Fleisch auskommt: Currys und Couscous und Oliven und Kartoffeln und Polenta, Pasta mit Pesto und.... Und Katie? Ja, Byron Katie ist doch auch Vegetarierin. Zumindest sagt sie, dass sie irgendwann bemerkt hat, dass sie ganz auf natürliche Weise nur pflanzliche Nahrung zu sich nimmt. Aha, da! Da haben wir's: „natürlich“ ist das Stichwort! Wenn ich erst mal erleuchtet bin, dann brauch ich kein Fleisch und keine Wurst mehr. Und vielleicht geht es auch umgekehrt. Wenn ich mich vegetarisch ernähre, kann wohl die Erleuchtung nicht mehr lange auf sich warten lassen, oder? Und es gibt ja so viele Fleischersatzprodukte: die vegane Wurst, das Seitan-Schnitzel, der Gemüse-Burger. Hm, ja, okay, da sind eine Menge Inhaltsstoffe verarbeitet. „Natürlich“ ist das vielleicht nicht mehr so sehr, aber so ab und zu mal zwischendurch... Und inspirieren und zum Durchhalten motivieren lass' ich mich von veganen und vegetarischen Influencerinnen und Foodbloggern, die nach jedem zweiten Rezept eine beeindruckende Yoga-Pose posten. Kopfstand oder Brücke. Während ich gerade mal den herabschauenden Hund hinbekomme. Sexy Körper, strahlendes Lachen. Ein Lifestyle, der mich catcht. Und es gelingt nicht. Und ich jammere meinen Mann an und gestehe unter Tränen, dass ich so gern Vegetarierin sein möchte. Er, der Fleischtiger, nimmt mich ernst. Und bietet mir an vegetarisch für uns zu kochen. Was auch immer ich will, sagt er. Und das erlaubt mir die Frage: will ich das überhaupt? Nein, ich will es nicht. Manchmal will ich Fleisch essen und manchmal nur Obst, Gemüse und Getreide. Manchmal freue ich mich echt auf meinen Porridge und manchmal gibt’s für mich nichts Besseres als ein Wurstbrot. Warum brauch ich eigentlich diese Labels? Kann ich bis zu meiner nächsten Mahlzeit überhaupt wissen, was ich bin? Frutarier, Pescetarier, Flexitarier oder Fleischfresser? Und warum will ich mich über meine Ernährung definieren?

Ich höre ein Interview mit einem jungen spirituellen Lehrer, der nach der „richtigen“ Ernährungsweise gefragt wird. Ich höre: Wir sehnen uns nach einem Leben im Einklang mit der Natur. Und gleichzeitig haben wir solche Angst Leben zu nehmen. Wir sollten uns nicht davor scheuen Leben nicht nur zu geben, sondern auch zu nehmen. Und gleichzeitig sagt er, dass man sich auch gut rein pflanzlich ernähren kann. Und ja, ich hab eine Scheißangst Leben zu nehmen. Ich träume von meinem autarken, minimalistisch eingerichteten Tinyhouse, in dem ich nur ein Paar Schuhe, zwei Hosen und fünf T-Shirts besitze, aber auf großem Grundstück, auf dem ich Schweine und Hühner halte. Mit dem Ziel, diese auch irgendwann zur Nahrung zu verarbeiten. Das wäre ehrlich! Da hätte ich Respekt für mich und vor dem Tier. Den Tieren das allerschönste Leben bieten und irgendwann schlachten und ein Fest feiern. Das ist natürlich! - Und ich weiß auch, ….. dass ich das nie könnte. Einem Huhn den Schädel abzuhacken? Ich seh' mich jetzt schon tränenüberströmt und zitternd und die Axt sinken lassend. Verdammt, was ist denn nun richtig? Ich hab Stress. Viel Stress. Und die Avocado, die ich mir statt dem Grammelfett auf mein Brot schmiere, reist durch die halbe Welt zu mir und verbraucht unvorstellbare Mengen Wasser. Und für den Tesla, den ich mir sofort kaufte, würde ich ein Auto brauchen, wird Lithium aus der Wüste gespült. Und durch die saubere Energie der Windräder sterben jeden Tag zahllose Vögel. Und ich hab auch keinen Bock im Winter nur Äpfel und Kraut zu essen. So verwöhnt und bequem bin ich! Es gibt richtig und es gibt falsch! Es gibt richtig und es gibt falsch – ist das wahr? Ich mag mir diese Frage noch nicht stellen. Sie erschlägt mich. Wenn ich diese Frage stelle, was wird dann passieren. Meine Welt wird zusammenbrechen. Werde ich dann auch anfangen FPÖ zu wählen? Und Trump gut finden? Und Gutmensch auch als Schimpfwort benutzen? Statt "plant-based food-diaries" tauchen in meinem Youtube-Feed plötzlich Videos auf wie „What I eat in a day as a raw meat carnivore“ und die sehr gesund aussehenden Menschen darin sind so überzeugt, dass rohes Fleisch essen die einzig gesunde, nährstoffreiche und natürliche Ernährungsform ist, dass ich anfange zu glauben, dass sie recht haben könnten. Dreh ich jetzt komplett durch?

Und ich würde gerne etwas Richtiges, etwas Hoffnungsvolles zum Schluss schreiben, dass das Ganze schön rund macht. Ein Fazit, eine Erkenntnis. Wie zum Beispiel: „Vergiss die Labels und höre auf dein Herz.“ Aber ich weiß nur, dass ich nichts weiß. Für diesen Moment. Nur um im nächsten Moment in der nächsten Egofalle zu landen. "Seht alle her, ich weiß, dass ich nichts weiß. Ich lebe den Don't-Know-Mind. Seht mich an, wie weit ich gewachsen bin."

In Wirklichkeit ist da im Moment nur Fucked-Up-Mind. Keine Antworten, nur verdammt viele Fragen. Warum muss diese Welt so kompliziert sein? Und warum bin ich so ein erbärmlicher Klischee-Millennial? Und warum bin ich jetzt wieder so hart zu mir, wo ich doch sanft mit mir sein wollte? Und wieso sind da nach der erfahrenen Stille wieder so viele Gedanken? Zurück auf Anfang, zurück zur Work, zu den vier Fragen: Es gibt eine richtige Lebensweise. Ist das wahr?

Und wenn ich das beantworte, dann kommt ihr alle auf ein Arbeitsblatt. Ihr Veganer, ihr Yoga-Praktizierenden, ihr Rassisten, ihr Vegetarier, ihr Fleischesserinnen, ihr Meditierer, ihr Kapitalisten, ihr Konsum-Verweigerer, ihr Sportskanonen, ihr Eso-Tanten, ihr Ignoranten, ihr Orthorektikerinnen. Euch alle werde ich mir vorknöpfen. Und werde doch nur mich selbst treffen.

Und ich habe große Angst eure Statistiken und die Links zu euren wissenschaftlichen Studien zu lesen und von euren Meinungen und euren Lebensstilen zu hören. Und: sie sind willkommen.

Photo by @jontyson on Unsplah

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